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Helmut Richter

Über sieben Brücken mußt du gehn

(Erstveröffentlicht in »Der Schlüssel zur Welt«, Mitteldeutscher Verlag Halle-Leipzig 1975; Verfilmung 1978)


Das Klubhaus war jetzt immer überfüllt. Im Foyer, das durch die großen Spiegel viel größer wirkte, als es in Wirklichkeit war, saßen und standen die Zuspätgekommenen und warteten geduldig darauf, daß ihnen im Saal oder im Restaurant ein Stuhl zugewiesen wurde. Die Saaltüren und die Flügeltür zum Restaurant waren weit geöffnet. Man konnte in die Räume hineinsehen: auf die Speisenden und auf die Tanzenden und auf die fünf Musikanten auch, die sich wanden und bogen und die langen Haare schüttelten wie Pferde ihre Mähnen. Hingegen war die »Zaspe« jetzt immer gähnend leer, und der Wirt dort war froh, daß wenigstens das Geschäft mit dem Flaschenbier nicht zurückgegangen war.

Ehedem war das anders gewesen. Das Klubhaus gehörte dem Kombinat, wurde von der Gemeinde nur mitbenutzt und war für diese allein viel zu groß. Aber dann wurde die Baustelle eingerichtet, und plötzlich war alles ganz anders. Schon am Mittag war das Restaurant überfüllt, und abends einen Platz zu bekommen gelang den Einheimischen nur selten. Um so häufiger versuchten sie es jetzt, denn man geriet fast immer an Leute, die etwas zu erzählen wußten, die sich den Wind um die Nase hatten wehen lassen. Manchmal klang es, als sprächen sie von fernen, exotischen Ländern: »Damals in Sosa!« sagten sie. Oder: »In Boxberg hatten wir...« Oder: »Als wir nach Schwarze Pumpe kamen...« Verwegene Kerle waren darunter, denen es auf einen scharfen Flirt mehr oder weniger nicht ankam. Die Frauen des Dorfes kramten versonnen in ihren Schmuckkästchen und durchmusterten kritisch ihre Kleiderschränke. Die Männer hatten plötzlich wieder ganz helle, wachsame Augen wie zu der Zeit, als ihre Frauen noch Mädchen gewesen waren und sich noch nicht für sie entschieden hatten. Und nun sollten auch noch die Bauleute aus Polen kommen.

»Wenn das man gut geht!« sagten viele, und es war nicht ganz klar, was sie damit meinten. Im Gemeinderat wurde jetzt wieder einmal (wie vor 20 Jahren schon) der Plan erörtert, die grünen Baracken, die immer noch hinter der Abraumhalde standen, endlich abzureißen, aber Schober, der Bürgermeister, war entschieden dagegen. »Ein Gebäude ist ein Gebäude«, sagte er mit einer Miene, als verkündete er das Evangelium. »Es kommt darauf an, wofür es verwendet wird.« Das war kaum zu widerlegen, und außerdem waren die Baracken jetzt an ein Baustofflager vermietet und brachten der Gemeinde Monat für Monat ein hübsches Sümmchen ein.

Obwohl Schober erst nach dem Krieg zugezogen war, verstand er die Gedankengänge seiner Gemeinderäte ganz gut. Die Baracken waren vom Dorf aus nicht mehr zu sehen, sie waren von schnellwüchsigen Pappeln eingesäumt, und so war die Erinnerung an sie nach und nach aus dem Bewußtsein geschwunden. Jetzt, auf die Kunde hin, daß Bauarbeiter aus Polen im Dorfe wohnen würden, befürchteten viele, die Holzhäuser könnten als ein Stück unbewältigter Vergangenheit angesehen werden. »Ach was«, sagte Schober. Er hatte selbst sechs seiner besten Jahre in ähnlichen Baracken zubringen müssen, und manchmal, wenn er da oder dort darüber sprach (zur Jugendweihe oder in einer FDJ-Versammlung), war es ihm schon vorgekommen, als spräche er nicht mehr über sich und über sein Leben, sondern über irgendeinen Fremden und über dessen Leben. »Ach was!« Die Gäste würden ja in den beiden Neubaublocks wohnen, die jetzt neben dem Klubhaus standen, und die Gemeinde wollte alles tun, den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Schober war zuversichtlich.

Tatsächlich schien er recht zu behalten. Die Männer aus Gliwice und Kielce bezogen ihre Wohnungen und fuhren dann Tag für Tag mit den Mikro-Bussen, die sie mitgebracht hatten, zur Arbeit. Nach Feierabend gingen sie einkaufen, wie die Alteingesessenen auch. Zuweilen traten zwei oder drei von ihnen in die »Zaspe« und tranken an der Theke ein Bier. Sie wirkten selbstsicher und aufgeschlossen. Zuweilen klangen aus ihren weitgeöffneten Fenstern schwermütige Lieder, so daß die Mädchen des Dorfes bewegt lauschten.


Jerzy Roman war gegen den Willen seiner Mutter hierher gefahren. Eines Tages war er nach Hause gekommen. Die Mutter stand wie immer am Zaun des Vorgartens und sah die schlecht gepflasterte Vorortstraße hinauf, sah zu, wie er oben bei Grogal um die Ecke bog. Ihr Herz schlug immer ein paar schnellere Schläge, wenn sie sah, wie tief er die Maschine gegen das Pflaster neigte, und sie wartete wie jedes Mal, daß er jetzt zu Boden stürzen würde... Er war also nach Hause gekommen und hatte gesagt: »Ich fahre nach Zaspenhain!« Sie stand bereits an der Pumpe, um ihm behilflich zu sein, den Straßenstaub aus dem Gesicht zu waschen, das Handtuch hing über dem rostdunklen Rohr, die Seifendose stand auf dem Deckstein des Brunnens, sie hatte den Schwengel schon nach oben geführt und verharrte nun so, als habe das eine Wort sie in Stein verwandelt.

Er hatte die Lederjacke bereits abgelegt, die Hemdsärmel hochgekrempelt und hielt die Hände unter die Ausflußöffnung. Er hob den Blick. Ihr Gesicht war sehr blaß. Gewöhnlich wirkte ihr Teint aber frisch und gesund: Sie arbeitete viel in ihrem Garten, und außerdem verstärkte der Kontrast zu den schlohweißen Haaren, die ihr Gesicht umrahmten, diesen Eindruck noch. Jetzt war ihr Gesicht weißer als ihr Haar.

»Was ist, Mutter?« fragte er. Er stützte die linke Hand auf das Rohr und richtete sich auf.

»Dorthin?« fragte sie. Sie flüsterte geradezu.

»Ja«, sagte er gewollt gleichmütig. »Wir sollen Kühltürme bauen.« Damit war das Gespräch zunächst beendet. Sie drückte den Schwengel nach unten, und er fing mit den Händen das kühle Wasser auf.



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