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Helmut Richter     Über sieben Brücken mußt du gehn


Später saß er dann am Küchentisch und löffelte »kalte Suppe«, die er im Sommer unvergleichlich fand. Er schmeckte voller Behagen die säuerlich-salzige Schärfe der Gurkenstückchen und den süßlich-dumpfen Geschmack der roten Bete, roch das sanfte Aroma des Dills ... Dies alles wuchs in der Gartenhälfte hinter dem Haus, vorn hingegen standen nur Blumen. Und er wußte, daß ihm dies immer als Inbegriff des Heimatlichen erscheinen würde: der Duft des Dills und die reinen Farben der Malven.

Die Mutter saß an der rechten Seite des Tisches, der mit blaukariertem Linoleum abgedeckt war, und schaute ihm schweigend zu. Zweimal hatte sie schon die Schürze glatt gestrichen (immer ein Zeichen, daß sie einen Entschluß gefaßt hatte), aber dann hatte sie doch wieder nur am Brotkorb gerückt, als stünde er nicht richtig. Erst am Abend begann sie das Gespräch über seine Arbeit noch einmal. Sie saßen in der Stube und hatten kein Licht angezündet. Jerzy lag auf dem Kanapee und lauschte dem vertrauten Ticken des Regulators. Er blickte zu den Fenstern, die als hellgraue Rechtecke noch zu erkennen waren, verziert durch die Scherenschnitt-Arabesken der Blumenstöcke. Die Dunkelheit gab der Mutter den Mut, wieder an Dinge zu rühren, die ebenfalls längst im Dunkel, im Dunkel der Vergangenheit lagen.

»Fahr nicht«, sagte sie. Sie stellte sich sonst selten gegen seine Entschlüsse, aber sie hatte plötzlich wieder das trostlose Grau der riesigen Karbidhalde vor Augen, die zwischen Lager und Werk aufragte. Sie erinnerte sich wieder ganz genau an den Geruch der Abgase, der ihnen manchmal nachts den jähen Verdacht ins Herz gepreßt hatte, ihre Liquidierung stünde bevor. Sie erinnerte sich, daß in den Bombennächten glühende Koksloren aus dem Werk hinausgeschoben wurden, um die Flieger irrezuführen, und manchmal war das auch gelungen.

»Warum?« fragte er. Er sah keinen Grund, von seinem Plan abzulassen. Wie oft hatte er diesen unschönen Namen schon gesagt, gedacht. Jeder Meldeschein jedes Hotel zwang ihn dazu, ihn zu schreiben. Geburtsort: »Zaspenhain (DDR).« Er hatte ihn sich nicht ausgesucht... Er erschrak, daß er das dachte, bat die Mutter insgeheim um Verzeihung, denn auch sie hatte ihn sich nicht ausgesucht. Aber hinfahren würde er doch. Er spürte schon jetzt, daß eine gewisse Vorfreude in ihm wuchs, obwohl er sich immer wieder sagte, daß auch ein Geburtsort einfach nur ein Ort war. Möglich, daß er enttäuscht wurde, enttäuscht wie seinerzeit, als er zum ersten Male die Landesgrenze passierte. Auch damals hatte er ganz bestimmte Vorstellungen gehabt, die durch die Wirklichkeit nicht erreicht wurden: Die Bäume waren jenseits der gedachten Linie genauso grün. Und der Himmel überspannte das Jenseits und das Diesseits mit einem gewaltigen, ungeteilten Bogen. Aber sei's drum. Er wollte weder der Erwartungen wegen die Wirklichkeit aufgeben noch die Erwartungen wegen der Wirklichkeit.


Gitta Rebus stand vor dem Mittelspiegel des Foyers und bürstete sich die Haare, als Jerzy eintrat. Vor ihr, auf der roten Polsterbank unter dem Spiegel, saß Günter Kuhn und bewunderte ihre Beine. Seine Fingerkuppen glitten den sanften Bogen ihrer Waden aufwärts und ertasteten die Grübchen in ihren Kniekehlen. Draußen war es bereits Nacht, und da die Lampe über dem Eingang von Randalierern zerschlagen worden war, sah es so aus, als sei die offene Tür mit dunklem Samt verhängt. Vor diesem dunklen Hintergrund stand plötzlich ein blonder Bursche und schien zu zögern, ob er eintreten sollte. Einen Augenblick war alles ganz unwirklich, Gitta hatte den Eindruck, dies dort sei gar nicht die Tür und der Bursche gar kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern alles zusammen ein erstaunlich lebensnah wirkendes Bild. Sie drehte sich rasch um, denn obendrein kam ihr dieses Gesicht bekannt vor.. - Aber da stürzten auch schon vier junge Männer auf den Eintretenden zu und zogen ihn herein. Gitta drehte sich sofort wieder um und beobachtete im Spiegel weiter. Zwei der vier Männer wollten Jerzy ins Restaurant ziehen, die beiden anderen schoben ihn auf den Saal zu. Sie sah, daß er offenbar sehr beliebt war und daß alle ihn gern am Tisch haben wollten. Er schien ein wenig verwirrt zu sein, wußte offenbar nicht, wie er sich entscheiden sollte: Er hob die Schultern, drehte die Handflächen nach vorn und lächelte hilflos. Schließlich gingen sie alle gemeinsam zunächst einmal in den Schankraum. Im Spiegel sah Gitta wieder nur ihr Gesicht, und es kam ihr noch häßlicher vor als sonst. Sie steckte die Bürste in die Handtasche, drehte sich um und ging nach draußen. Kuhn erhob sich sofort und ging ihr nach. Aber draußen sah er, daß sie nicht auf ihn wartete. Er rief ihren Namen, aber sie drehte sich nicht um. Er rannte ihr hinterher und holte sie schnaufend ein:

»Was ist denn?«

»Nichts«, sagte sie.

Er konnte wegen der Dunkelheit nicht erkennen, was in ihrem Gesicht vorging, aber er packte sie am linken Arm und hielt sie zurück. Sie mußte sich ihm zudrehen. Ihre weiße Bluse leuchtete ihm aus dem Jackenausschnitt entgegen, und er griff nach ihrer Brust. Sie wehrte sich nicht. Er schob sie gegen den schiefstehenden Bretterzaun der alten Kegelbahn. Sie spürte das rissige Holz an ihren Schulterblättern, sie spürte, daß er sich näher an sie heranmachte, daß er ihr den Rock in die Höhe schob, daß er ihr die Knie auseinanderdrückte, daß er in sie eindrang. Sie ließ es geschehen. Und sie registrierte alles, als sei sie selbst gar nicht daran beteiligt.

Dann machte sie sich frei, und er sah ihr blöde und fassungslos nach, wie sie sich auf dem hellen Kiesweg immer weiter von ihm entfernte.


Jeder Mensch hat einen Traum, der immer wiederkehrt. Gitta Rebus diesen: Sie ist noch ein Kind. Die Mutter räumt die Reste des Abendbrotes vom Tisch, stellt sie auf das Henkeltablett, das sie von der Großmutter harten, geht hinaus in die Küche. Der Vater steht am Schreibtisch und dreht sich mit einem dieser merkwürdigen Apparate, die es in der Nachkriegszeit gab, eine Zigarette. Sie selbst sitzt auf dem Sofa, ist dabei, sich auszuziehen, um ins Bett zu gehen. Da schlägt die Flurglocke an. Sie springt vom Sofa, öffnet. Draußen stehen zwei Männer in langen Lodenmänteln und fragen nach dem Vater. Sie tritt beiseite und läßt die Männer ein. Die Mutter kommt aus der Küche, der Vater kommt aus dem Wohnzimmer. Einer der beiden Männer, der ältere, fragt »Herr Rebus?« Der Vater sagt »Ja?«

Und der Grauhaarige sagt: »Sie sind verhaftet!« - Später erfährt sie, daß dieser Mann Schober heißt, er wird Bürgermeister in Zaspenhain.



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