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Helmut Richter     Über sieben Brücken mußt du gehn


Lange war das Ticken des Regulators das einzige Geräusch in diesem dunklen Raum. Ach, mein Junge, dachte sie unausgesetzt, ach, mein Junge, wie kann ich dir nur helfen? Wie kann ich deinen Schmerz lindern, ohne dir neuen Schmerz zuzufügen? Aber sie wußte schon, daß sie nun auch über das sprechen mußte, was sie bisher verschwiegen hatte.

»Ich habe das Bild nicht zerschnitten«, sagte sie leise.

»Wie?« Er schrak auf. Er war in Gedanken offenbar weit weg gewesen.

»Ich habe das Bild nicht zerschnitten!« - Die Szene war ihr wieder ganz gegenwärtig: Da war der Tisch, darüber die Lampe mit dem Blechschirm, da war Krolaks Messer, das an der aufgelegten Holzleiste entlang glitt und das Foto teilte; da war Staneks trauriger Blick schließlich, als er die eine Hälfte ihr reichte

Gegen Ende des Krieges hatte ein Teil der Männer beschlossen, aus dem Lager auszubrechen. Das war ein großes Risiko, aber vielen schien es geringer zu sein, als nur zu warten und womöglich zuletzt noch liquidiert zu werden. Nahrungsvorräte wurden angelegt, sogar ein paar Waffen beschafft, aber am Abend vor der bestimmten Nacht ausgehoben. Die fünf Hauptbefürworter der Flucht wurden verhaftet und erschossen. Zufall? Kaum! Verrat war die einzig plausible Erklärung.

»Danach habe ich deinen Vater nicht wiedergesehen«, sagte sie. Zu ihrer großen Verwunderung war es ihr leichter gefallen als erwartet, über all das zu sprechen. Sie hatte einen Ton der Sachlichkeit gefunden, der schon beinahe wie Härte erschien. Er hatte ihr atemlos zugehört.

Jetzt fragte er, und sie hörte genau, wie entsetzt er war.

»Meinst du, daß Vater ...?« Er war ganz atemlos.

»Nein«, sagte sie fest, »nein, bestimmt nicht. Aber der Verdacht richtete sich auf ihn oder wurde bewußt auf ihn gerichtet, wer weiß... Er war von Anfang an gegen den Fluchtplan gewesen, denn mit dir hätte ich ja nicht mitgehen können. Und dann fanden sie dieses Bild bei ihm, und es wirkte wie ein letzter Beweis...

»Aber es war keiner, wie?!«

»Nein«, sagte sie »Nein, bestimmt nicht. Jedenfalls glaube ich es nicht. Uns beiden ging es sehr schlecht damals, und dein Vater war immer auf etwas Zusätzliches aus, uns am Leben zu erhalten. Da legt man dann wohl auch den Arm um die Schulter, die mit einer verhaßten Uniform bedeckt ist. Heroisch war das wohl nicht, aber du würdest nicht leben, wenn er anders gehandelt hätte..«

Und nun mußte er fertig werden mit alledem. Und nach und nach begriff er, daß der Wert der einen Bildhälfte durch den Wert der anderen mitbestimmt wurde. War der eine Vater ein Verräter, dann war wohl der andere der Zwischenträger gewesen; war der Verdacht, in den der eine Vater geraten war, ein tragischer Irrtum, dann kannte das Bild durchaus als Alibi für den andern gelten. Und war es so, was konnte er dafür? Und war es anders, was konnte sie dafür?


Als sie das Kind zum ersten Male im Arm hatte, glaubte sie, in dem verhutzelten Säuglingsgesicht Ähnlichkeit mit Jerzys Gesicht zu entdecken. Sie wußte, daß es Unfug war, dies zu glauben. In diesem Gesichtchen steckten noch viele andere Gesichter. Es konnte Jerzy drin stecken, aber auch das der Mutter. Oder das von Jerzys Mutter oder das ihres Vaters schließlich. Aber sie hoffte eben, daß es sein Gesicht sein würde. Und vielleicht in erträglichem Maße auch das ihrige.

Sie war jetzt sehr müde. Die Entbindung war zwar relativ rasch verlaufen, aber sie hatte sich doch vollkommen verausgabt dabei. Einerseits fühlte sie sich wunderbar erleichtert, andererseits war ihr, als lägen Berge auf ihren Gliedern. Wenn sie nicht an Jerzy oder an das Kind dachte, ging ihr jetzt dauernd eine Liedzeile durch den Kopf. Das heißt, sie wußte eigentlich nicht einmal, ob es eine Liedzeile war. Jedenfalls kamen ihr die Worte immer wieder in den Sinn, weil sie ihre jetzige Empfindung gut genug ausdrückten: all ihren Kummer und all ihre Hoffnung und Zuversicht auch. »Über sieben Brücken mußt du gehn.« Und sie sah diese Brücken vor sich, und auf jeder von ihnen ging sie mit dem Kind ihm entgegen.

Über sieben Brücken ... Dann schlief sie ruhig ein.


Vom Klubhaus her wehte der Wind ein paar Takte Tanzmusik herüber, und der Arzt dachte: Es ist wenig, was wir tun können, aber wenn es gelingt, ist es viel.

Und wo Züge abfahren, kommen Züge schließlich auch wieder an.



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