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Helmut Richter     Über sieben Brücken mußt du gehn


Zwar war nun Gras über »die Sache« gewachsen, die Nachbarsfrauen nannten die Mutter wieder »Lisa«, aber die unfrohen Falten neben deren Mund hatten sich schon allzu tief eingegraben.

Und ihr selbst war inzwischen klar, wie sie die häufige Mattigkeit und das zeitweilig auftretende Fieber zu deuten hatte, wie es um ihr Herz bestellt war: daß die Krankheit, die sie sich an jenem Abend zuzog, eine Spur hinterlassen hatte, die nie mehr ausgelöscht werden konnte

Sie fühlte sich sehr einsam jetzt, während sie auf ihr Leben zurücksah. Ihr war, als stecke sie noch einmal in dem schwarzen Eis jenes Novemberabends und blickte dem Auto nach, mit dem der Vater sich entfernte, und vielleicht, wenn Günter Kuhn noch draußen gewesen wäre, vielleicht hätte sie ihn jetzt sogar hereingelassen.

Aber er war gegangen. Wenn sie seine Zuneigung an seiner Ausdauer maß, fiel die Bilanz nicht günstig aus. Plötzlich hatte sie Angst vor der Zukunft: Unvorstellbar, wie sie es schaffen sollte, einen Menschen für immer an sich zu binden. Sie sprang aus dem Bett, trat vor den hohen Spiegel. Durch die Laterne vor dem Haus war es hinreichend hell im Zimmer. - Sie war nicht gerade häßlich, aber in ihrem Gesicht war einfach nichts, was einen Betrachter sofort hätte fesseln können Die Stirn war eine Spur zu breit, die Augenbrauen etwas zu flach, die Augenfarbe kaum zu bestimmen, der Mund ein bißchen zu breit... Nichts war regelmäßig, aber es war auch nichts so abweichend, daß es charakteristisch gewirkt hätte. Ihr Körper war schöner. Sie zog das Hemd aus: Ja, ihr Körper war schön. Wenn sie im Freibad war, umlagerten die Burschen ihre Decke wie eine Festung. Und sie genoß diese Bewunderung. Einmal war sie sogar bis zum Autobahnsee gefahren, weil man dort auch nackt baden konnte. Ihre Sehnsucht, bewundert zu werden, hatte im Grunde nichts Erotisches an sich, war eigentlich nur der Wunsch, das Manko an Zuneigung auszugleichen, das durch den Verlust des Vaters eingetreten war. Aber die Fahrt hatte sich nicht gelohnt. Man beachtete sie kaum.

Gitta Rebus arbeitete in einem Labor des Benzinwerkes. Von den Mädchen und Frauen dort hörte sie Tag für Tag Worte, die anders klangen als die der Mutter: »Laß die Finger von Männern!« Und so ließ auch sie sich hin und wieder in einen dunklen Winkel drängen und ließ sich küssen und abgreifen. Zu Hause, wenn sie dann im Bett lag, bereute sie es manchmal, nicht nachgegeben zu haben, und sie stellte sich dann immer wieder ganz genau vor, wie es sein würde... Anderntags, von den Kolleginnen ausgefragt, erging sie sich in dunklen Andeutungen. Ins Kreuzverhör genommen, gab sie, jäh errötend, Einzelheiten zum besten, die sie hei anderer Gelegenheit von den Befragern selbst gehört hatte. Aus Angst, ihre Unerfahrenheit könnte doch einmal entdeckt und zum Gegenstand kameradschaftlichen Spotts werden, trug sie möglichst dick auf, übertrieb maßlos. Und so war ihr Ruf schon verdorben, als sie an Günter Kuhn geriet. Günter Kuhn machte nicht viel Federlesens. Er machte bei keiner viel Federlesens. Dies alles war für ihn kein weltbewegendes Problem und auch keine Prestigefrage: Klappte es, war es gut, klappte es nicht, war es auch gut. Meinje! Bei Gitta hatte er überhaupt keine Komplikation erwartet. Als er schließlich erkannte, daß sie noch unberührt war, überraschte ihn das ziemlich, und er wurde von einer Zuneigung befallen, die wenigstens ein wenig über das bei ihm übliche Maß hinausging. (Verliebt war er nur ein einziges Mal gewesen, und gerade dieses Mädchen hatte einen anderen ihm vorgezogen. Darüber war er immer noch nicht hinweg.) - Sie schliefen dann noch oft miteinander. Sie nahm ihn auch mit in ihr Zimmer. Die Mutter wollte zunächst protestieren, aber sie sagte dann schließlich doch nur: »Aber ein Kind hält dein Herz nicht aus, merk dir's. Und eine Abtreibung auch nicht!« Eines Tages war es dann plötzlich aus. Weder Gitta noch Kuhn hatten die Beziehung als beendet erklärt, es gab keinen deutlichen Schlußstrich, und doch »gingen« sie nicht mehr miteinander. Andere kümmerten sieh jetzt um sie, und nur gelegentlich, zuweilen, wenn der Zufall sie einander in die Arme trieb, ging Günter Kuhn mit ihr in die Wiesen oder klopfte mal an ihr Fenster, wenn es anderweitig nicht geklappt hatte...


Jerzy Roman hatte seinen Vater nie gesehen. Er wußte nicht einmal, wie er in diesem Zaspenhain ums Leben gekommen war. Die Mutter, wenn sie überhaupt davon erzählte, malte ein Bild voller Dunkelheit und Ungewißheit. Soviel begriff er, daß sie sich in den Bombennächten leichter treffen konnten als sonst. In solchen Nächten versah die Wachmannschaft ihren Dienst nur lax, saß im Bunker und kümmerte sieh nur um das eigene Leben. Und dann war er plötzlich nicht mehr gekommen. Warum? Weshalb? »Frag mich nicht, Junge!« sagte sie dann immer, und das konnte heißen, daß sie wirklich nicht wußte, wo der Vater abgeblieben war, aber auch, daß sie es nur nicht sagen wollte. Aber da Jerzy fühlte, wie seine Fragen sie quälten, ließ er schließlich wieder ab. War es denn auch nötig, alles zu wissen? Es gab auch nur ein einziges Bild vom Vater. Und Jerzy nahm es jetzt an sich, obwohl die Mutter sich sträubte. Eigentlich war es nur die Hälfte eines Bildes. Der Vater sah ihm sehr ähnlich beziehungsweise er ihm. Es fiel ihm schwer, die logische Beziehung herzustellen, denn der Vater war auf dem Bild zwei Jahre jünger als jetzt er. Er empfand sogar eine Art Scham wegen dieses Umstandes. So ein merkwürdiges Gefühl, vergleichbar dem, das ihn mal befallen hatte, als er unvermutet in das Waschhaus gekommen war und die Mutter nackt in dem Holzauber stand und sich abseifte. Er sah also dem Vater sehr ähnlich: Er hatte die gleiche kräftige Statur, die gleichen blonden Haare, die gleichen Gesichtszüge. Es hätte ebensogut ein Bild von ihm selbst sein können. Nur die Turnhosen (der Vater war auf dem Bild nur mit einer Turnhose bekleidet), nur die schwarzen Turnhosen verwiesen auf die Zeit, die seitdem vergangen war: Man trug sie damals viel länger.

Mit dem linken Arm stützte sich der Vater auf einen Hydranten, den rechten hatte er offenbar um die Schultern eines Nebenmannes (oder einer Frau?) gelegt. Aber das konnte min wirklich nur vermuten, da war das Bild auseinandergeschnitten. »Weißt du, wer da gestanden hat?« fragte ur. Er hatte schon oft danach gefragt.

»Nein«, sagte die Mutter. »Nein, ich weiß es nicht.«

»Hast es so bekommen?«

»Ja, ich habe es so bekommen.«



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