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Helmut Richter     Über sieben Brücken mußt du gehn


Der Traum hat drei Teile: Dies war der erste Teil. Danach läuft der Film der Erinnerung nicht sofort weiter. Ein Stand bild zunächst: die Mutter, der Vater, die beiden Männer, Sie selbst... Es ist nicht sehr hell in dem engen Korridor, der Lampenschirm ist aus Rohr. Plötzlich erkennt man: Er bewegt sich ein wenig, dreht sich rechtsum, linksum. Vielleicht hat ihn der Luftzug beim Öffnen und Schließen der Tür in Schwingung versetzt. Das Lichtmuster an der Wand läuft langsam mit: rechtsrum, linksrum. Dann ruckt der Film weiter. Der Vater macht eine Bewegung, als wollte er weglaufen. Der Mann sagt ruhig: »Es hat keinen Zweck, Herr Rebus. Machen Sie keine Umstände.« - Der Vater nimmt den Mantel von der weißblau gestrichenen Flurgarderobe, legt sich den Wollschal um den Hals, setzt die schwarz eingefärbte Wehrmachtsmütze auf, küßt die Mutter, beugt sich zu ihr hinab... Jetzt steht der Film wieder. Und zwar diesmal an einer ganz ungewohnten Stelle, denn das ist nicht das Gesicht des Vaters, das ist das Gesicht dieses blonden Burschen, den sie vorhin zum ersten Male gesehen hat. Gewöhnlich geht es in diesem Abschnitt noch ein Stückchen weiter: Der Vater beugt sich zu ihr hinab, küßt sie aufs linke Ohrläppchen, streicht ihr übers Haar, richtet sich auf, der jüngere der beiden Besucher öffnet die Tür, geht voraus. Dann fällt die Tür ins Schloß, und dies ist gewöhnlich das Ende des zweiten Teiles: Da ist die Tür, braun gebeizt. Das Gitter vor den vom Flurlicht erhellten Scheiben ist ein verschlungenes Ornament. Die Korridorlampe dreht sich jetzt nicht, sie pendelt. Unmerklich fast, ganz langsam: links, rechts, mal ist der Rand des Lichtkegels an der linken Wand höher, mal an der rechten, so daß man auch meinen könnte, das Haus schwanke... Dann die Szene vor dem Haus. Die Innenbeleuchtung des Wagens brennt. Der Vater sitzt auf dem Rücksitz zwischen den beiden Männern. Dann geht das Licht aus. Der Wagen wird gestartet. Dann flammen die Scheinwerfer auf, erfassen die Straße. Die Straße ist ein helles Band, das direkt in die Unendlichkeit führt. Im Granit des Pflasters blitzen Kristalle gefährlich auf, die Rücklichter des Fahrzeuges sind die glühenden Augen des Teufels. Sie läuft auf sie zu, sie auszukratzen. Aber sie entziehen sich ihr: erst langsam, dann schneller, verschwinden schließlich ganz. Die Nacht ist wie schwarzes Eis. Sie steht erstarrt. Die Rufe der Mutter vermag sie nicht zu erwidern...

Nun erwacht sie. Einen Augenblick hat sie Mühe, sich zurechtzufinden: Dies ist ihr Zimmer, dies ihr Bett. Ihr Herz schlägt wie ein Schmiedehammer. »Du mit deinem Herzen!« Wie oft hat sie das gehört während all dieser Jahre. jeweils als Vorwort zu weiteren Ermahnungen oder als Resümee. »Renne nicht so! Schwimme nicht so weit hinaus! Tanz nicht so wild! Laß die Finger von Männern!« Immer war ihr gewesen, als könne sie sich nicht frei bewegen, als stecke sie in einem Mantel, dem sie bereits entwachsen ist. Jetzt setzte im Klubhaus drüben die Musik wieder ein, und nun bemerkte sie auch, woher die Rufe kamen, durch die sie erwacht war. Unter dem Fenster stand Günter Kuhn. Eine Weile schaute sie ihm zu, wie er den Boden nach kleinen Steinen abtastete, wie er die Hände wie einen Trichter an den Mund legte. Sie betrachtete ihn mit großer Gleichgültigkeit. Dann legte sie sich wieder ins Bett.

Was hatte sie schon gehabt von ihrem Leben? Während sie jetzt zurückblickte, erschien es ihr plötzlich trist und grau. Das mochte ungerecht sein, aber sie urteilte aus einer Empfindung heraus, als habe sie einen großen Verlust erlitten. Noch immer hatte sie die Szene vor Augen, in der sich der Vater. mit dem Gesicht des Burschen, den sie noch gar nicht kannte, über sie beugte, um sich zu verabschieden... Für immer, wie sie weiß! Was hatte sie also gehabt? Da war zunächst die schwere Angina, die sie erst gut überstanden zu haben schien, als bestimmte Symptome das Gegenteil signalisierten, Symptome, die von der Mutter übersehen, jedenfalls nicht mit der Krankheit in Verbindung gebracht wurden. Der Kummer um den Vater überdeckte damals halt alles andere. Und wie denn nicht? Seine Mitschuld an der Havarie der Förderbrücke (eindeutig Sabotage) war zwar nicht erwiesen, wurde aber allgemein als vorhanden unterstellt, als er, kaum aus der Untersuchungshaft entlassen, bei Nacht und Nebel nach dem Westen ging.

Nun wurde auch wieder darüber geredet, daß er während des letzten Kriegsjahres in der Verwaltung des Polenlagers gearbeitet hatte; ein Umstand, der längst untersucht und als unerheblich beigelegt worden war. Jetzt wirkte er beinahe wie eine Erklärung, wie ein Tatmotiv. »Rebus?« wurde sie später immer mal wieder gefragt, »Rebus? War das dein Vater, der...?« Aber die ersten Wochen und Monate waren die schlimmsten. War es ein Wunder, daß ihre Mattigkeit, ihre Abgeschlagenheit nicht jener schweren Erkältung, sondern ihrer allgemeinen Bedrängtheit angelastet wurden? Denn plötzlich hatte sie Angst, in die Schule zu gehen, Angst, auf die Straße zu gehen. Kinder sind oft sehr unbarmherzig. Kinder hören manches von ihren Eltern, was sie lieber nicht hören sollten. Die Urteile, die innerhalb der eigenen vier Wände gefällt werden, sind oftmals überspitzt, ungerecht, unverstellt jedenfalls. Kinder unterscheiden noch nicht zwischen Anschein und Realität: Sie brauchte da nur an Ruth Schmidt zu denken, die jetzt Ruth Bauermeister hieß...

Freilich, die Mutter tröstete sie, so gut sie konnte. Aber sie selbst hob den Blick nicht mehr, wenn sie auf die Straße ging. In einem Dorf kennt halt jeder jeden. Auch die Mutter hatte das Gefühl, daß die Leute beiseite traten, wenn sie kam, daß sie ihr nachschauten, wenn sie ging. Als der erste Brief eintraf, der sie zum Nachkommen aufforderte, da hätte sie dem allerersten Impuls beinahe nachgegeben. Aber sie stammte aus dieser Gegend, war kein Zugereister wie Vater, den erst der Krieg hierher vertrieben hatte: Ihre Eltern lebten hier, ihre Geschwister, alle arbeiteten in der Grube oder im Betrieb. Die Frauen arbeiteten in den Stellwerken oder als Klappenschlägerinnen oder als Laborantinnen, die Männer als Lokführer oder als Maschinisten oder als Chemiewerker. Alle hatten sie also, direkt oder indirekt, eine Beziehung zu der Förderbrücke, die man getrost auch das Herz der Grube nennen konnte. Allen aus der Verwandtschaft war der Gedanke unerträglich, daß ihr Name in einen Zusammenhang mit einer unehrlichen Handlung gebracht werden konnte: Korge? War nicht die Große von Korges mit diesem Rebus...? »Der Mann soll zurückkommen, seine Unschuld beweisen oder die Strafe auf sich nehmen und die Schuld abtragen. Einer, der fällt, kann auch wieder auf stehen«, sagte der alte Korge. Aber der Postbote brachte den zweiten Brief, und der zweite war eine Wiederholung des ersten: »Kommt nach!« Auch die zweite Antwort war eine Wiederholung der ersten. Und so fort. Und nach und nach wurde der zeitliche Abstand zwischen Brief und Gegenbrief größer, und nach Jahren schlossen zwei amtliche Schreiben, eines von hier, eines von dort, den Vorgang ab.



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