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Helmut Richter     Über sieben Brücken mußt du gehn


Oder sie dachte weit voraus, daran, wie es sein würde, wenn sie zusammenlebten: er und sie und das Kind... Wenn die Liebe wirklich durch den Magen ging, dann wollte sie schon sorgen, daß sein Magen ihr Fürsprecher wurde. Sie hatte lange gebraucht, bis sie ein polnisches Kochbuch aufgetrieben hatte. Ganz selten dachte sie an die Zeit, die zwischen dem Gespräch mit Schober und Jerzys Abreise lag. Aber häufig träumte sie gerade hiervon Es war eine schreckliche Zeit gewesen, eine Zeit voller Mißverständnisse und böser Vorahnungen. Einerseits hatte sie zwar gespürt, daß Jerzy sie wirklich liebte, andererseits hatten Schobers Bemerkungen ihr die Unbefangenheit genommen, mit der sie sich vorher bewegt hatte. Sie wußte nun, daß man über sie redete, daß man ihr nachsah, wenn sie mit Jerzy durchs Dorf ging. Zunächst ließ sie deshalb nur seine Hand los, wenn sie an die ersten Häuser kamen, dann vermied sie es überhaupt, sich mit ihm sehen zu lassen. Sie glaubte das alles sehr klug anzustellen, aber er bemerkte es doch. Er konnte sich ihr Verhalten überhaupt nicht erklären. Es kränkte ihn, aber er gab diesem Gefühl zunächst nicht nach. Schließlich dachte er, daß ihre intimen Beziehungen daran schuld seien, daß sie vielleicht nur die Unverbindlichkeit gewünscht hatte, daß ihr die Verbindlichkeit hingegen lästig war. So war er Weihnachten allein nach Hause gefahren, obwohl er sie gern mitgenommen hätte. Mit der Mutter sprach er aber doch über sie. Sie saßen nebeneinander auf der Ofenbank, und er wartete darauf, daß die Äpfel, die in der Ofenröhre lagen, gar sein würden. Er hatte ausführlich erzählt, wie es ihm dort ergangen war: wie sie untergebracht waren; wie ihnen die Leute entgegenkamen; wie die Arbeit vorwärts ging, Allgemeineres schließlich. Zuletzt, als ihre Neugierde schon befriedigt schien, sprach er von Gitta. Daß sie Einwände haben würde, hatte er erwartet, daß sie schweigend aufstand und hinausging, hatte er nicht erwartet. Später sagte sie: »Hast du ihr gesagt, daß ich dort gewesen bin? Daß du dort geboren bist?«

»Nein«, sagte er, »wozu?«<7p>

»Wozu?« wiederholte sie. Es kam ihr vor, als wolle dieses »Wozu« nachträglich all dem Schweren, das sie erlebt hatte, die Schwere nehmen. Als seien die Leiden, die ihnen aufgezwungen worden waren, ganz unerheblich gewesen. Sicher, es waren ja in jenem deutschen Staat die Wurzeln solcher Unmenschlichkeiten gründlich gerodet worden, sie wollte es gerne glauben, die Länder lebten seit zwei Jahrzehnten in Freundschaft miteinander, aber betraf das die einzelnen auch schon mit ihren ganz besonderen Schicksalen und Lebenswegen? Mußte nicht weiterhin und lange noch nachgefragt werden nach Herkunft und Haltung des einzelnen? (Es war gut, daß die Nachbarin kam, um sich Salz zu borgen.)

Später berührten sie dieses Thema nicht mehr. Er vor allem deshalb nicht, weil ja doch noch vieles ganz ungewiß war. Aber er nahm sich vor, mit Gitta ernsthaft über die Zukunft zu reden, was nur heißen konnte, sich über die Vergangenheit zu verständigen und über die Gegenwart auch. Das Mißtrauen, das er seit geraumer Zeit empfand, demütigte ihn doch mehr, als er anfangs geglaubt hatte. Gitta war ganz erschrocken, als sie begriff, was durch ihr Verschulden in ihm vorgegangen war. Sie hatten diesmal den Weg nach Sülpitz eingeschlagen. Es war sehr kalt, und sie mochte den Winter eigentlich nicht, dicke Bekleidung beengte sie. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, und dann versuchte sie ein Geständnis abzulegen. Sie wollte so aufrichtig wie möglich über die Zeit berichten, die vor ihrer Begegnung lag. Aber er wehrte ab. »Wozu?« fragte er. »Du sollst alles wissen«, sagte sie. Aber er wollte nicht. »Ich will nur wissen, ob du mich liebst«, sagte er. Sie blieben stehen und umarmten einander und spürten weder Kälte: noch Wind.

Die Abende verbrachte er jetzt zumeist bei ihr zu Hause. Sein Bett im Wohnlager blieb unberührt.

Eines Abends saßen sie im Wohnzimmer und überlegten, was sie noch tun könnten. Zum Fernsehen hatten sie keine Lust, die Mutter hatte keine Zeit für ein Spiel, sie saß unter der Stehlampe vor einem Korb mit Wäsche, die ausgebessert werden mußte. Schließlich nahm Gitta die Fotoalben aus der Kommode: Man konnte lachen, wenn man sich als Baby gab, als Schulkind, als Backfisch, und man stellte gleichzeitig die Familie vor. Vom Vater waren Bilder kaum vorhanden, aber das war leicht zu erklären, er hatte zumeist fotografiert. Ein Familienfoto war aber da: Zu dritt standen sie unter einem Baum. Der Vater stand hinter Gitta, hatte beide Hände auf ihre Schultern gelegt, und das sollte wohl heißen: Mein Kind! Ein anderes Foto zeigte ihn allein. Er stand vor der Förderbrücke und stützte sich lässig auf einen Holm. Und auch diese Haltung sollte offenbar ein besonders enges Verhältnis ausdrücken, Aus diesen beiden Bildern hatte die Mutter sehr lange sehr viel Hoffnung und Zuversicht gezogen.

»Weshalb ist er eigentlich weggegangen?« fragte Jerzy. Die Mutter sah von ihrer Näharbeit rasch auf. Sie mochte diesen ruhigen Burschen, und sie nahm am Glück der beiden teil, als wäre es eine späte Wiedergutmachung ihres eigenen Unglücks. »Ach, weißt du«, sagte sie. »Vielleicht aus Angst. Kann sein, ich habe ihm auch zu wenig geholfen.« - Jerzy fand wieder, daß sie in vielem seiner Mutter ähnlich war: Auch sie redete nicht viel, aber was sie sagte, klang immer so, als habe sie lange darüber nachgedacht und bäte darum, es als Lebenshilfe anzunehmen. Ja, dachte er, wir müssen uns gegenseitig helfen und aufmuntern, damit die Vergangenheit nie wieder Gewalt über uns gewinnt. - Er war voller guter Empfindungen, als er die Seite des Albums umschlug.

Zwischen den folgenden Seiten lagen mehrere Fotografien. Sie waren nicht eingeklebt. Es waren ganz unterschiedliche Motive, und eines zeigte Gittas Vater noch einmal: Er trug eine Uniform und stand neben einem Burschen, der nur mit einer Badehose bekleidet war. Sie hatten die Arme einander um die Schultern gelegt. Den linken Arm stützte der Bursche auf einen Hydranten. Im Hintergrund, links, ziemlich weit hinten, sah man ein paar Baracken, rechts ein paar Bösche und dahinter die Halde... Gitta zog das Bild mit einem großen Erstaunen an sich, Einen Augenblick dachte sie nämlich, neben dem Vater da stünde Jerzy. Sie war so verblüfft, daß sie für einen Augenblick das Gefühl für die Realität völlig verlor und schon fragen wollte, wo Jerzy den Vater denn kennengelernt hätte, aber dann besann sie sich... Sie wandte sich Jerzy zu und erstarrte förmlich unter dein fürchterlichen Blick, mit dem er sie betrachtete.

»Aus Angst ist er weggelaufen?« fragte er höhnisch.

»Verstehe!« Er spürte, daß er die richtigen Worte nicht fand, der Innenraum seines Schädels kam ihm vor wie ein weißgekalktes Zimmer in Neonlicht

»Was hast du?« fragte sie.

»Was ich habe? Was ich habe?! Du fragst, was ich habe?!« -Er sprang auf. Er war völlig außer sich. Denn auf dem Exemplar des Fotos, das er von seiner Mutter hatte, war von dem anderen Mann, war von diesem Mann, der ihr Vater war, nichts zu sehen. Säuberlich weggeschnitten war er. Brauchte man da noch nach Gründen zu fragen? Wer weiß, was der auf dem Gewissen hatte, als er von hier weglief, ausriß, die Kurve kratzte, um dorthin zu gehen, wo nur ganz wenigen seines Schlages ein Haar gekrümmt wurde. Inwiefern hatte diese Frau da, die immer noch ihre blöde Nähnadel in der Hand hielt, inwiefern konnte sie so einem Mann zu wenig geholfen haben? Was meinte sie damit? Daß sie ihm nicht nachgefahren war? Er wandte sich Gitta zu.



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