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Helmut Richter     Über sieben Brücken mußt du gehn


»Begreifst du immer noch nicht?« schrie er, als er sah, daß sie ihn immer noch ohne Verständnis anstarrte. »Der eine ist dein Vater, und der andere ist mein Vater!« Er riß das Bild in der Mitte durch. »Und in diesen Bretterbuden dahinten bin ich geboren!« Es würgte ihn in der Kehle, und er riß sich das Hemd auf. Er wollte noch irgend etwas sagen, etwas, was sie tief treffen sollte, etwas, was sie genauso schmerzen sollte, wie ihn die soeben entdeckte ungeheuerliche Wahrheit schmerzte. Aber er fand das Wort nicht, er fand überhaupt keine Worte mehr. Er lief hinaus. Er nahm den Mantel von der blau-weiß gestrichenen Flurgarderobe, legte sich den Wollschal um den Hals, setzte sich die Mütze auf, öffnete die Tür...

Als Gitta im Flur anlangte, fiel die Tür eben zu. Nun war sie sicher, daß sie alles nur träumte. Die Tür ist braun geheizt, das Gitter vor den vom Flurlicht erhellten Scheiben ist ein verschlungenes Ornament. Die Flurlampe hat einen Schirm aus Rohr. Sie pendelt leicht, unmerklich fast: links, rechts. Mal ist der Rand des Lichtkegels an der linken Wand höher, mal an der rechten. Was ist? Pendelt die Lampe, schwankt das Haus? Als die Mutter aus dem Wohnzimmer kam, fand sie Gitta am Boden.

Am nächsten Nachmittag wartete sie vergebens auf ihn. Am Abend ging sie zu Stanislaw Schulz. Schulz war Jerzys Brigadier, und sie hatte großes Vertrauen zu ihm. Er ließ sie ein, aber er war verändert: Seine Freundlichkeit wirkte erzwungen. Sie erklärte ihm lang und breit, daß das Foto den Vater damals entlastet hatte, damals, als seine Beziehung zum Lager offiziell untersucht worden war. Aber sie hatte den Eindruck, daß Schulz nicht richtig zuhörte.

»Ist er weggefahren?« fragte sie mutlos.

»Ja.«

»Wird er wiederkommen?«

»Kaum.«

»Also gut«, sagte sie. Sie verabschiedete sich. Sie war Schulz dankbar, daß er wenigstens ihren Händedruck erwiderte.

Damals wußte sie schon, daß sie schwanger war. Als sie in der folgenden Woche zum Arzt ging, wollte sie lediglich hören, wie groß ihre Chance war, das Kind gesund auf die Welt zu bringen. Dr. Baumert stammte aus diesem Dorf, und seit 40 Jahren praktizierte er hier. Praktischer Arzt und Geburtshelfer stand auf dem Messingschild seiner Gartentür, das er immer höchst eigenhändig putzte; die Leute lachten längst nicht mehr darüber. Anfangs ja, anfangs hatten sie gelacht, aber damals hatte er sich ganz einfach darüber hinweggesetzt. Sein Vater war hier Grubenarbeiter gewesen und hatte schwer geschuftet und entbehrt, damit sein Sohn dieses Schild anbringen konnte. Den meisten der jungen Leute, die jetzt hier lebten, hatte Dr. Baumert auf die Welt geholfen.

»Du weißt nur die Hälfte von deinen Schafen«, pflegte er am Stammtisch zu Schober zu sagen, »du kennst sie alle nur von außen: Ich kenne sie auch von innen.«

»Na, nun hast du's«, sagte er zu Gitta. »Und nun willst du also von mir wissen, wie du es wieder los wirst?« - Er hatte sie zweimal schon zur Kur geschickt und ihr immer wieder ins Gewissen geredet, es nicht zu übertreiben.

»Nein«, sagte sie.

»Was heißt nein?« fragte er. »Willst du es haben?«

»Wenn es geht . . .« - Er war nicht weiter überrascht, er nahm ihre Absichtserklärung nicht allzu ernst, er kannte ihren Ruf, denn Schwester Hilde, die Sprechstundenhilfe, führte ihm nicht nur die Wohnung, sondern versorgte ihn auch mit dem Klatsch und Tratsch des Dorfes. Nach den ersten Vorhaltungen würde Gitta schon Abstand nehmen, da war er ganz sicher. »Du hast eine gute Chance, die Unterbrechung genehmigt zu bekommen«, sagte er. »Die Belastungen durch Schwangerschaft und Entbindung sind selbst für eine herzgesunde Frau enorm.« - Er sprach von Fortschritten moderner Kardiologie und moderner Geburtshilfe, von hochwirksamen Antibiotika auch, ließ aber immer ein Aber mit einfließen. Bis er nach ihrem dritten Nein! beschämt gewahr wurde, daß er mit der gleichen routinierten Beredsamkeit, die er Wünschen, eine Frucht abzutreiben, entgegensetzte, nun darauf aus war, einer Frau diesen Wunsch erst einzureden.

»Nun gut«, sagte er schließlich. »Aber da werden wir uns gut darauf vorbereiten müssen.«

Jerzy war am frühen Morgen zu Hause angekommen und hatte sich in der Wohnstube auf das Sofa gelegt. Die Mutter hatte sein Zimmer gelüftet und gewischt und sein Bett frisch bezogen und war dann zum Kaufmann gegangen, weil ihr dies und das zu seinem Lieblingsgericht noch fehlte. Als sie zurückkam, lag ein Zettel auf dem Tisch: »Bin im Betrieb.« Abends sagte er dann: »Ich arbeite jetzt wieder hier!« - Sie ließ es dabei bewenden, fragte nicht. Hatte sie ihm nicht abgeraten, dorthin zu fahren? Die Zeit würde die Wunde schon heilen, an der er offensichtlich litt. Aber die erste Woche verging, die zweite und auch nach zwei Monaten hatte sie nicht den Eindruck, daß er zur Ruhe käme. Eines Abends sagte sie: »Willst du dein Herz nicht erleichtern, Junge? Schließlich hin ich doch deine Mutter.« - »Ach, Mutter«, sagte er, »ach Mutter!« Sie saßen wieder auf ihrem Lieblingsplatz, auf der Ofenbank. Sie hatte kein Licht angezündet. Sie liebten es, so im Dunkeln zu sitzen, die Rücken an den warmen Kacheln des Ofens, Sie floß ihm Zeit. Und dann erzählte er, Rückhaltlos.

»Und mir war«, sagte er schließlich, »als würde ich das Bild noch einmal zerschneiden, so wie du es zerschnitten hast! Abschneiden alles, was eine Verbindung darstellen könnte zwischen diesem und jenem, zwischen damals und heute... Aber mir war auch, Mutter, als zerschnitte ich mein Herz!«

Sie erkannte am Klang seiner Stimme, daß er weinte. Das erschütterte sie maßlos, denn er hatte auch als Kind nie geweint.



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